Die Situation der Bildenden Kunst von Ulrich Rothermel, 1983
Meine Damen und Herren, man hat mich aufgefordert, diese Ausstellung in der Galerie Dorn mit einem Vortrag über ein allgemeines Thema der Malerei, Graphik und Plastik einzuleiten.
Ich möchte Ihnen Stoff und Anlass zu Gesprächen und Diskussionen geben durch eine Betrachtung der gegenwärtigen Situation der Bildenden Kunst. Dabei will ich mich auf vier Beobachtungen beschränken, die mir besonders wichtig erscheinen.
Die erste betrifft den Gegensatz zwischen dem, was heute im Kunstbereich an der Basis geschieht und dem, was sich oft in publikumsfernen Höhen auf den Tummelplätzen einer sogenannten Elite ereignet. Unter den Künstlern, die nicht das Glück hatten überregional oder international bekannt zu werden, gibt es viele, die sich weit intensiver und konsequenter um die wirklichen Werte und Voraussetzungen eines Kunstwerks bemühen als mancher Spitzenreiter der Kunstarena, der mit Hilfe aufsehenerregender Gags nach vorne gelangt ist.
Was uns fehlt, ist eine echte Elite, die künstlerlische Zeichen setzt, deren Bedeutung unser Jahrhundert überdauert. An ihrer Stelle präsentieren sich heute vielfach die zu Unrecht hochgelobten Erfinder modischer Effekte und die Erzeuger bewusst antikünstlerischer Provokationen. Sucht man nach dauerhaft gültigen Massstäben für die Bewertung künstlerischer Leistungen, nach exemplarischen, die Anteilnahme des Betrachters weckenden Arbeiten dieser oder jenner Stilrichtung, dann wird man sie in unseren Tagen weit eher bei Malern und Bildhauern entdecken, die zur bereits erwähnten Basis gehören, als in jenen Elfenbeintürmen, in welchen nicht selten kunstferne Künstlichkeiten entstehen, deren Sinn uns verborgen bleibt.
Ein akzentuierendes Zitat aus Hilmar Hofmanns kulturkritischer Abhandlung « Kultur für Alle » möchte ich dem ersten Teil meiner Betrachtungen noch hinzufügen. Er fragt : « Wieso setzen eigentlich manche Künstler in aller Selbstverständlichkeit voraus, dass ein Publikum sich um das Verständnis ihrer Werke zu bemühen habe, ohne sich ebenso selbstverständlich darum zu kümmern, dass man diese Werke auch verstehen kann ? »
Die zweite Beobachtung, die ich hier weitervermitteln und zur Diskussion stellen möchte, betrifft ein verbreitetes Vorurteil, man könnte es auch schlicht als Denkfehler bezeichnen. Bei vielen offiziellen oder inoffiziellen Gelegeheiten wird heute die Ansicht vertreten, Kunst hat nur dann Gewicht, wenn sie etwas Neues hervorbringt, möglichst etwas provozierend Neues. Das Ergebnis dieser Überzeugung sind dann häufige Verwechslungen von Novität und Qualität, immer kurzfristiger einander ablösende Kunstmoden, immer hektischer, grotesker und substanzloser werdende Versuche etwas Neues zu finden oder zu erfinden.
Das Suchen nach dem eigenen Weg, das Streben nach einer persönlich bedingten Werkauffassung ist zweifellos für jeden Künstler, der seine Aufgabe ernst nimmt, eine Notwendigkeit. Aber es besteht für ihn keine Notwendigkeit in jeder Hinsicht Neuartiges zu präsentieren, wenn er seiner Aufgabe gerecht werden will. Wirklich begabte Maler und Bildhauer können sehr wohl Beachtenswertes und Bedeutendes, für ihre Mitmenschen Wichtiges und Gewichtiges zustande bringen, wenn sie zum Beispiel künstlerische Traditionen impressionistischer und expressionistischer, realistischer oder surrealistischer Art in zeitgemässer Form fortsetzen, variieren oder weiterentwickeln.
Sie leisten damit weit mehr für einen fortwirkenden echten Kunstbestand als jene, die im Namen einer vermeintlichen Progressivität im Niemandsland zwischen Kunst und Nichtkunst herumirren und jene, die modische Seifenblasen produzieren auf Kunstmärkten, die mitunter an Jahrmärkter erinnern.
Und jetzt, meine Damen und Herren, komme ich zum dritten Teil meiner Beobachtung : Ebenso verbreitet wie die Meinung nur das Neue verdiene in der Kunst Respekt, ist die Ansicht, vor allem die dunklen, dissonanten und negativen, die problematischen und fragwürdigen Seiten unseres Daseins seien es wert vom Künstler dargestellt zu werden.
Sicher kann und soll die Kunst mit solchen Motiven, vorausgesetzt, sie wurden in einer dem Betrachter begreiflichen Weise interpretiert, wünschenswerte und wertvolle Gesellschaftskritik betreiben. Sicherlich gehören Bosheit und Hässlichkeit, Armut und Elend, Schmerz und Verzweiflung, Krankheit und Tod in unserer unzulänglichen, mitunter absurden Welt zu den wesentlichen und wichtigen Themen einer künstlerischen Reaktion auf die Wirklichkeit.
Aber diese Wirklichkeit hat auch helle seiten, nicht wenige, sonst würden wir nicht existieren. Die Kunst darf solche Seiten nicht aus ihren Bildinhalten verdrängen, wenn sie der Ganzheit des Lebens gerecht werden will. Sie hat auch ausgleichende, Gegengewichte schaffende Funktionen auf unserer ständig vom unheil bedrohten Erde. Das wird heute leider oft vergessen oder bewusst übersehen.
« Der Mensch braucht ein Existenzminimum an Schönheit », meint Max Rössler . Von Albert Camus stammt der Satz : « Wir haben dem Schmerz und der Schönheit zu dienen. » Hans Küng sagte in seiner Eröffnungsrede zum Stuttgarter Künstlerkongress : « Die Kunst ist aufgefordert nicht nur den Mut zur Darstellung negativer Erfahrungen aufzubringen, sondern auch positive Sinngehalte, Werte und Gefühle für das Schöne darzustellen. Im übrigen sollte ihr Dienst am Menschen nicht zuletzt darin bestehen, ohne schlechten Trost und falsche Weihe das zu versinnbildlichen, was noch nicht ist, wie Mensch und Gesellschaft sein könnten, worauf menschliche Sehnsucht wartet. ».
Meine Damen und Herren, ich schildere Ihnen nun die vierte Beobachtung : In manchen Insider-Kreisen der der zeitgenössischen Kunstszene kann es einem nicht dazugehörenden, informationsbedürftigen Gast durchaus passieren, dass man ihm auf seine Frage, nach welchen Qualitätsmassstäben denn dieses oder jenes neuere Kunstprodukt beurteilt wird, mit einem fast mitleidigen Lächeln antwortet :
« Aber lieber Freund, brauchbare Krierien zu diesem Zweck gibt es doch nicht mehr. Wären sie vorhanden, dann wüssten wir ja auch was Kunst eigentlich ist, ich weiss es nicht, wissen Sie es ? Im übrigen ist heute erfreulicherweise so ziemlich alles möglich auf diesem Gebiet. Damit beweisen wir ja, dass wir es ernst meinen mit der künstlerischen Freiheit. Haben sie etwas dagegen ? »
Wenn der auf diese Art Belehrte es nicht riskieren will von seinem Gesprächspartner in die reaktionäre Ecke verwiesen zu werden, wird er sich bei seiner Entgegenung zurückhalten. Sollte dies jedoch nicht der Fall sein, wird er vielleicht darauf hinweisen, dass der hirezitierte Standpunkt zwar einerseits bis zu einem gewissen Grad verständlich ist, wenn man an die verwirrende Vielfalt gegensätzlicher künstlerischer und pseudokünstlerischer Zielsetzungen auf dem heutigen Kunstmarkt denkt. Andererseits, so mag der Herausgeforderte zu bedenken geben, ist dieser Standpunkt auch recht bequem. Und wenn sogar Kunstvermittler ihn vertreten, dann kann er sich nur negativ auswirken, denn er entschuldigt falsche Entscheidungen und propagiert die Beliebigkeit .
Statt sich hinter der bequemen Ausrede zu verstecken, verwendbare Massstäbe gibt es nicht, eine Meinung, die kunstfremden Unsinn akzeptiert und manchem Nichtskönner die Wege ebnet, sollte man sich um die Aktualisierung der eben doch vorhandenen , wenn auch oft nicht mehr beachteten Kriterien kümmern und sie unter anderem dazu benützen das häufige Missverhältnis zwischen erhobenem Anspruch und tatsächlicher Leistung aufzudecken.
In seiner aufsehenerrregenden Schrift « Das Kunsturteil » spricht Claus Borgeest von der « ratlosen Bereitwilligkeit mit der die Subjektivität des Kunsturteils heute hingenommen wird, von dem sich Abfinden mit Widersprüchen , die für den begreifenden Verstand eine Zumutung sind ». Die Frage warum dieses oder jenes Produkt ein Kunstwerk sei, werde oft mit der lapidaren Feststellung beantwortet : « Weil es eben eines ist und weil der Urheber es als ein solches bezeichnet. Basta ! »
Meine Zuhörerinnen und Zuhörer, ich bin der Ansicht, dass es immre nötiger wird, der wachsenden Rat-und Orientierungslosigkeit grosser Teile des künstlerisch interessierten Puplikums entgegenzuwirken, indem man zum Beispiel als verantwortlicher Kunstvermittler die Toleranz nicht übertreibt, indem man strenger siebt nach Massstäben, die unabhängig sind vom schnell wechselnden Modetrend, von Gags und Show-Effekten.
Es gibt Gesetzmässigkeiten, meine Damen und Herren, die für die Kunst aller Epochen ihre Gültigkeit behalten, wenn es sich um wirkliche Kunst handelt. Sie gehören zu den Grundlagen ästhetischer Kategorien, ästhetisch bedingter Wert-und Qualitätsbegriffe im Kunstbereich.
Erweiterungen und Ergänzungen solcher Begriffe, die das heutige Kunstgeschehen besonders berücksichtigen, sind sicher sehr wichtig. Bei der Beurteilung des Kunstangebots sollten aber die Grenzen zwischen Kunst und Nichtkunst, Kunst und Antikunst, Kunst und Pseudokunst nicht ausser Acht gelassen werden.
Man sollte nicht achselzuckend « neutral » bleiben, wenn Kunst sich selbst ad absurdum führt, ihr eigenes Wesen verleugnet, Selbstmord verübt. Wer seine Freiheit auf künstlerischem Gebiet damit beweisen möchte, dass er die seit Jahrtausenden in unzähligen Abwandlungen bewährten und erneuerten geistigen und gestalterischen Grundlagen der Kunst nicht mehr anerkennt, dient nicht der Freiheit sondern dem Chaos.
Jürgen Weber, Bildhauer, Professor an der T.U. Braunschweig und Verfasser engagierter Schriften über den heutigen Kunstbetrieb, meint in diesem Zusammenhang : « Wenn man heute versucht, nahezu alles als Kunst zu bezeichnen, dann geschieht dies ausserhalb jeder vernunftgemässen Erkenntnis. Es handelt sich hier um eine bewusste Auflösung aller denkbarer Massstäbe. Man propagiert Kunst in Nullform. »
In einer Auseinandersetzung mit Joseph Beuys und seinem konfusen, die Eigenständigkeit der Kunst nicht mehr beachtend, ins Uferlose erweiternden Kunstbegriff vertrat der Museumsexperte Dr. Heinz Spielmann mit Recht die Ansicht « Kunst wird nicht irgendwo fertig gefunden, sie wird gemacht und gebildet. Zeichenhaft spiegelt sie Welt und Bewusstsein.Sie kann deshalb nicht identisch sein mit dem Trivialen. Nicht Rhetorik, Absichtserklärungen oder aufgemalte Autogramme erzeugen Kunst, sondern das geformte, durch die Tätigkeit des Künstlers sichtbar gewordene bildnerische Resultat . »